Wasserkraft & Arbeit

Ohne Wasserkraft keine Industrialisierung. Dieser Zusammenhang und die Veränderung des Lebens im 19. Jahrhundert erleben Sie im Neuthal auf eindrückliche Weise in einer einmaligen Umgebung.

Ausstellung

Zwischen 1827 und 1890 entstand im Neuthal ein Industrieensemble, das in seiner Authentizität in der Schweiz praktisch einmalig ist. Noch heute präsentiert sich diese Einheit von Arbeitsstätten, Lager- und Ökonomiegebäuden, Wasserkraftanlagen, Kosthäusern und dem Fabrikantenwohnhaus mit seinen Parkanlagen als wunderbar erhaltene Einheit.

Das Areal wird zudem eindrücklich vom Viadukt der früheren „Uerikon-Bauma-Bahn“ überspannt und ist Ausgangspunkt für Wanderungen auf den abenteuerlich gebauten, romantischen Guyer-Zeller-Wanderwegen.

Im Neuthal erhalten Besucher und Besucherinnen einen Einblick in einen Industriebetrieb des 19. Jahrhunderts, wie diese damals im Zürcher Oberland wie Pilze aus dem Boden schossen und das zuvor landwirtschaftlich geprägte Leben umkrempelten. Vor Ort lässt sich erfahren, wie die Menschen damals gearbeitet und gelebt haben, und welche Bedeutung die Textilindustrie für die Schweiz hatte.

Einen besonderen Fokus bietet das Neuthal zum Thema Wasserkraft. Die weitgehend intakt erhaltene Anlage mit drei gestauten Weihern, Druckleitungen und Turbinen zeigt, wie die Nutzung der Wasserkraft die Industrialisierung erst ermöglichte. In den Katakomben des Neuthals können bis heute laufende Turbinen besichtigt werden.

Industrialisierung

Landwirtschaft & Heimarbeit im Zürcher Oberland

Im 18. Jahrhundert war das Zürcher Oberland eines der führenden Gebiete in der Herstellung von Garn und Stoffen. In Heimarbeit wurde gesponnen, später auch gewoben. Von Zürich brachten Fergger das Rohmaterial den Oberländer Bauern zur Verarbeitung. Das Garn und die Stoffe gelangten durch die Fergger wieder nach Zürich und wurden dort verkauft. Der Erlös war ein wichtiger Zustupf für die Kleinbauern, die mit der Landwirtschaft allein ihre Familien kaum ernähren konnten.


Von der Heimarbeit zur Fabrikarbeit

Mit der Erfindung der Spinn- und Webmaschinen fielen diese Einkünfte weg; die Heimarbeiter mussten nun ihren Lebensunterhalt mit der Arbeit in der Fabrik bestreiten.

Das Zürcher Oberland – Zentrum der Textilindustrie

Im Zürcher Oberland entstanden innerhalb weniger Jahrzehnte dutzende von Textilfabriken, die von Wasserkraft angetrieben wurden. Und Wasser war reichlich vorhanden.

Eine von diesen Fabriken war die 1827 erbaute Spinnerei in Neuthal am Wissenbach, einem Zufluss der Töss.  

Geschichte des Neuthals

Mühle Müetschbach

Oberhalb des Fabrikareals steht es heute noch: das Gebäude der ehemaligen Mühle Müetschbach. Die Mühle wird 1379 zum ersten Mal erwähnt  und war damals im Besitz der Burgherren von Greifenberg. Ihr Wohnsitz ist ausgangs Bäretswil bis heute als Ruine erhalten geblieben. In den Nebenmühlen wurden eine Sägerei  und eine Stampfe, eine Reibe und eine Schleife betrieben. 1854, 27 Jahre nach dem Bau der Spinnerei wurde der Mühlenbetrieb eingestellt; das Haus diente fortan als Konsumladen, Wirtschaft und Bäckerei, als Kost- und heute als Wohnhaus.

Firmengründung im Neuthal

1825 erwarb die Winterthurer Baumwollhandelsfirma Geilinger & Blum die Mühle Müetschbach mit dem dazugehörigen Wasserrecht mit der Absicht, eine Spinnerei zu erstellen. Zwei Jahre später, bauten die neuen Besitzer mit Johann Rudolf Gujer, unterhalb der Mühle eine mechanische Spinnerei. Diese war der Grundstock, aus dem sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte das Ensemble Neuthal mit seinen verschiedenen Gebäuden, Wasser- und Parkanlagen entwickelte. Das Ensemble ist in seiner Gesamtheit heute schweizweit einmalig.

Der Weiler Neuthal verdankt J.R. Gujer auch seinen Namen: Müetschbach fand er unpassend – Neuthal sollte er künftig heissen: Zeuge des Aufbruchs in eine neue Zeit!

Nachdem die Anlage 1930 an die Firma Hegner verkauft worden war, wurde der Fabrikationsbetrieb 1965 eingestellt. Nach verschiedenen Handänderungen erwarben eine Stiftung für ehemals Drogenabhängige die Villa samt Parkanlagen und Ökonomiegebäuden, der Kanton Zürich das Fabrik- und alle anderen Gebäude samt Turbinenturm am Wissenbach.

Aufstieg und Blüte



Adolf Guyer-Zeller (1839-1899) Textilfabrikant…

Der Mann, der das Neuthal in seiner heutigen Form prägte, war Adolf Guyer-Zeller, Sohn des Erbauers Johann Rudolf Gujer. Schon als Achtzehnjähriger begab er sich nach Frankreich, um sich weiterzubilden. Auf weiteren Bildungsreisen, die ihn bis nach Ägypten, Griechenland und in die USA führten, interessierte er sich für die neuen Maschinen in der Textilbranche und betätigte sich auch als Einkäufer von Baumwolle für seinen Vater.

Zurück im Neuthal wurde er 1863 Geschäftspartner seines Vaters und heiratete die Stadtzürcherin und Fabrikantentochter Anna Wilhelmina Zeller. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er 1876 die Baumwollspinnerei, die er bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1899 führte.

… und Eisenbahnkönig

Noch mehr als die Textilindustrie interessierte Adolf Guyer-Zeller die Eisenbahn. Ein Spekulationskauf von Aktien der kurz vor dem Konkurs stehenden Nordostbahn brachte ihn an die Spitze dieses Unternehmens. Er plante eine Eisenbahnlinie bis nach Konstantinopel, konnte sie aber nie realisieren.

Die Eisenbahnbrücke, die das Museum Neuthal Textil- und Industriekultur überspannt, erinnert an den Bau seiner Üerikon-Bauma-Bahn, die das Tösstal mit dem Zürichsee verband.

Sein grösstes und erfolgreichstes Projekt war der Bau der 1912 eingeweihten Jungraubahn, die heute alljährlich eine knappe Million Besucher die Gletscherwelt des Jungfraugebietes erleben lässt und Magnet des schweizerischen Tourismus schlechthin ist.  


Das Ende der Spinnerei Neuthal

Die Besitzerverhältnisse im Neuthal änderten sich mehrmals. Nachdem die Anlage 1930 an die Firma Hegner verkauft worden war, wurde 1936 die Spinnerei stillgelegt. Nach einer zwanzigjährigen Nutzung als Weberei wurde die Fabrik 1964 geschlossen und der Fabrikationsbetrieb eingestellt. Nach verschiedenen Handänderungen erwarb der Kanton Zürich das Fabrikgebäude sowie alle anderen Anlagen samt Turbinenturm am Wissenbach. Die Stiftung Suchttherapie Neuthal übernahm die die Villa mit Parkanlagen und Ökonomiegebäuden.

Wasserkraft

Fahrenbühlweiher

Weihersystem

Prägend für das Industrie-Ensemble sind die Wasserkraftanlagen, die ab 1827 etappenweise ausgebaut und miteinander verbunden wurden mit dem Ziel, das Wasser des Kringelbach, des Wissen- und des Stoffelbach optimal zu nutzen. Dazu gehörten drei voneinander unabhängige Weiheranlagen samt Regulier- und Transmissionsturm.






Transmissionsseil & Schieber

Vom Wasserrad zum Elektroantrieb

Das Wasser der drei Bäche trieb zwei übereinanderliegende immense Wasserräder von je 12 m Durchmesser und später die drei Girard-Turbinen an. 1932 ersetzte man zwei der Girard-Turbinen durch Francis-Turbinen.

1886 hielt die Dampfkraft Einzug im Neuthal und ergänzte die Wasserkraft. 1908 schlug im Neuthal die Stunde der Elektrizität, die zuerst für die Beleuchtung und ab 1915 auch für den Antrieb der Maschinen genutzt wurde. Die Kraft des rund 180m flussabwärts gelegenen Turbinenturms wurde jedoch weiterhin durch eine Seiltransmission in die Fabrik übertragen.

Girard-Turbineein Juwel der Turbinengeschichte

Im Neuthal wurden 1879 die zwei Wasserräder durch drei moderne Girard-Axialturbinen ersetzt. Die Girard-Turbine ist eine der ersten Druckturbinen.Entwickelt wurde sie von Louis Dominique Girard, einem brillanten französischen Ingenieur (1815 – 1871). Er erfand die sogenannte Hydropneumatisation, ein revolutionäres Zusammenspiel von Wasser und Luft. Die Girard-Turbinen wurden in der Schweiz in Lizenz hergestellt und waren dank der anpassungsfähigen Bauweise ideal für den Einsatz in verschiedensten Industrien.

Die Besonderheit der Girard-Turbine besteht darin, dass beim Laufrad der Auslauf des Wassers um ein Drittel grösser ist als beim Einlauf. Der Luftzustrom zwischen Leit- und Laufrad verhilft zu einem stabilen Durchfluss des Wassers und erhöht den Wirkungsgrad. Die Luftlöcher an der Seite des Radkranzes unterstützen diesen Vorgang.

Eine Girard-Turbine kann in ihrer Anfertigung der Wassermenge und des Wasserdruckes angepasst und voll- oder teilschlächtig betrieben werden.

Die Girard-Turbinen wurden in der frühen Industrialisierung nicht nur zum Antrieb von Maschinen eingesetzt, sondern auch zur Stromerzeugung.

Werkstatt

Schreinerei

Die Schreinerei befindet sich im Obergeschoss des Werkstattgebäudes, der „Kapelle“.

Hobel-und andere Maschinen werden durch eine Riementransmission angetrieben.

Hier entstand auch die kunstvolle „Laugbsägeverzierung“ am Ökonomiegebäude gegenüber der Villa.

Werkstatt

Ursprünglich sind hier noch die Esse und der dazu gehörende Doppelblasebalg. Die andern Maschinen  zur Metallbearbeitung stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert.

Eindrücklich die Transmisssionsriemen , mit denen die Kraft der Wasserräder auf die Maschinen übertragen wurden.

Wäscherei

Auf der Hinterseite der Werkstatt befindet sich die Original-Waschküche, in der die Wäsche der Familie Guyer gewaschen wurde. Der Wäschehafen und andere Gerätschaften lassen erahnen, mit wieviel Aufwand man vor 150 Jahren gewaschen hat.

Architektur

Spinnereigebäude

Nicht nur wegen der Wasseranlagen und der verschiedenen Museen ist das Ensemble Neuthal einen Besuch wert. Faszinierend sind auch die romantischen Parkanlagen und die Architektur der verschiedenen Gebäude. Einige sind in Privatbesitz und können leider nur von aussen bewundert werden. Zentral ist das 1827 entstandene fünfstöckige Hauptgebäude. Mit einer streng geordneten Fensterfront, unterteilt durch einen Quergiebel, trägt es klassizistische Züge und steht für Zucht und Ordnung, die in der Fabrik herrschte. Die vielen Fenster brachten viel Licht in die Fabriksäle, so liessen sich künstliche Lichtquellen einsparen.

Villa

In der Fortsetzung der Hauptachse folgt dann das Fabrikantenwohnhaus mit dem Glockentürmchen. Ursprünglich einfach eingerichtet, erhielt das Haus durch den Umbau von Adolf Guyer-Zeller einen villa-ähnlichen Charakter. Besonders erwähnenswert ist ein im Neurenaissance-Stil ausgestattetes Repräsentationszimmer, das mit einer bemalten Kassettendecke, mit Sinnsprüchen über den Fenstern und schweren Vorhängen dekorierte „Gesellschaftszimmer“. Da es in Privatbesitz ist, kann es leider nicht besucht werden.

Nebenbauten

Gegenüber dem Fabrikgebäude steht das ehemalige Werkstattgebäude. Die hohen Spitzfenster und das Rosettenfenster in der Giebelfront erinnern an eine gotische Kapelle. Mit seinem Geschmack für historisierende Architektur wie hier der Neugotik war Adolf Guyer-Zeller ein Kind seiner Zeit. Dazu passen auch der Turbinenturm, der an einen mittelalterlichen Wehrturm erinnert, und die Terrasse über dem Transmissionsseil, die mit ihrem Geländer einen griechisch-römischen Touch erhielt.

Ebenfalls erwähnenswert sind die beiden Ökonomiegebäude im Anschluss an die Villa: Auffällig sind die mit Laubsägearbeiten fein verzierten Fassaden, entstanden in der Hausschreinerei in der „Kapelle“.

Parkanlage

Alle Gebäude sind verbunden durch zwei Parkanlagen. Den oberen Park ziert ein dreischaliger Springbrunnen, dahinter findet sich eine romantische Grotte. Ist der obere Park eher streng komponiert, hat der untere mit seinem Tempelchen, dem Weiher und den lauschigen Ecken eher etwas Verspieltes. In all diesen Anlagen spiegelt sich eine Charaktereigenschaft von Adolf Guyer-Zeller: Neben seiner der Technik und dem Fortschritt zugewandten Seite kommt hier sein Hang zur Romantik zum Zuge.

Führungen

Ablauf: Führungen für Gruppen von ca. 10-20 Personen dauern ca. 1 ½ – 2 h und behandeln folgende Themen:

Sie erfahren mehr über das Leben von Adolf Guyer-Zeller – prägende Persönlichkeit im Neuthal und seine Eisenbahnprojekte.

Zusammen mit dem Führer nehmen Sie die Girardturbine im Turbinenturm in Betrieb und erleben wie mit Riemen- und Seiltransmission eine ganze Fabrik betrieben werden konnte.

Weitere Themen: Von der Heim- zur Fabrikarbeit, soziale Fragen mit besonderer Berücksichtigung der Kinderarbeit.